Nun ist es da, das Weiße Album von Rammstein, und so mancher Fan ist unzufrieden. Doch das muß nicht so bleiben. Denn auch ein Album, das man nicht mag und vielleicht nie mögen wird, kann objektiv ein gelungenes sein. Wie kann man der No. 7 und auch anderen Alben, die man zum erstenmal hört, Gerechtigkeit erweisen? Im folgenden werde ich sagen, wie ich, ein Kind von Sgt. Pepper, mich neuen Alben nähere und auch diesem genähert habe.
Zunächst betrachte ich alle Stücke im Zusammenhang. Beginnt das Album so, daß der Anfang aufhorchen läßt? Sind die einzelnen Stücke so zusammengestellt, daß es abwechslungsreich klingt? Paßt das Ende eines Stücks zum Beginn des nächsten? Hat das Album von Anfang bis Ende einen Spannungsbogen? Wirken alle Stücke, so unterschiedlich sie auch sind, im Zusammenhang des Werks wie aus einem Guß? Endet das ganze Album so, daß ich erst einmal durchatmen muß und danach unwillkürlich das Bedürfnis habe, die ganze Scheibe noch einmal zu hören?
So ist es noch nach 52 Jahren bei Sgt. Pepper von den Beatles, das diverse Stücke enthält, die nicht zu ihren besten zählen, und so ist es auch bei der No. 7 von Rammstein. Das erste Stück des Albums macht gespannt auf das, was folgt, und das letzte entläßt den Hörer musikalisch in die Unendlichkeit, aber eben nicht nur musikalisch. Denn das letzte Wort des Albums ist das Wort »Gesang«. Hier stellt sich unwillkürlich die Frage, ob dieses Wort und das, was wir gehört haben, zusammen einen Sinn ergeben.
Dies können wir mit Ja! beantworten. Denn soweit ich das anhand der Reaktionen sehe, zweifelt keiner der Fans daran, daß Till auf diesem Album nicht nur mehr »gesungen« hat als auf den anderen Alben, sondern stimmlich auch besser denn je. Darin, daß er sich mit »Puppe« als Sänger selbst übertroffen hat, sind sich wohl alle einig, selbst wenn sie das Stück nicht mögen.
Und wie ist es mit den einzelnen Stücken eines Albums? Auch hier muß wieder gefragt werden, ob die Teile eines Stücks (d.h. harmonisch und melodisch) einen Sinn ergeben, nämlich eine innere musikalische Logik und einen »Flow«. Den vermisse ich bei diversen LIFAD-Stücken (so etwa beim Titelstück oder bei »Wiener Blut«); hier vermisse ich sie nirgendwo. Spräche ich kein Wort Deutsch, so wüßte ich doch sofort, ob es sich um einen einen humoristischen Text handelt oder um einen düsteren, vielleicht sogar um einen, der schockieren könnte.
Ob Till (oder ein anderer Texter) sich bei den Themen wiederholt, ist zweitrangig; denn die Themen wiederholen sich bereits, seit es Gedichte und Lieder gibt. Vgl. hierzu alte Volksliederbücher, vertonte Gedichtzyklen wie Schuberts »Winterreise« oder Songbooks aus allen Genres der U-Musik. Entscheidend für ein Musikstück ist nur, ob Text und Musik einander ergänzen und zusammen mit dem Arrangement, der Interpretation des Sängers und der Produktion ein stimmiges Ganzes ergeben. Dies ist auf diesem Album der Fall, auch und gerade bei »Was ich liebe«, dessen neues musikalisches Gewand sehr viel besser zum Text paßt als im gewohnten Demo.
Nun müßte eine detaillierte Betrachtung der einzelnen Stücke folgen, nämlich anhand der Frage, ob Rammstein sich wirklich nur wiederholen, wie in den deutschen Feuilletons behauptet wird, oder – gemessen an ihrem bisherigen Repertoire – Neues gewagt haben. Dies ließe sich sehr schön anhand von »Zeig dich« zeigen. Der Text erinnert zwar als »Halleluja«, doch er enthält noch mehr als nur simple Kirchenkritik. Mn lese ihn ganz in Ruhe. Und die Musik? Man muß sich in der Popgeschichte seit den 50er Jahren auskennen, aber nicht nur dort, um ermessen zu können, was der Band hier gelungen ist. Sie hat nämlich Carl Orff, Phil Spectors dreieinhalb Minuten kurzes Meisterwerk »River Deep – Mountain High«, Duane Eddy und Rammstein auf einen Pop-Nenner gebracht, und dies im Rahmen eines Vierminutenstücks. Leute, die nichts von Musik verstehen, sind in diesem Fall schon einzig und allein daran zu erkennen, daß sie – wie manche »Kritiker« - hier von Gregorianik schwätzen. Damit aber hat der Chorgesang absolut gar nichts zu tun. Allen, denen er gefallen hat, sei dieses kurze Stück von Carl Orff empfohlen. Schon der Titel paßt zu Rammstein: »Ich hasse und ich liebe«. Was den unserer Band auch musikalisch verwandte E-Komponisten mit den Olympischen Spielen von 1936 (ergo indirekt mit Leni Riefenstahl) verbindet, können Interessierte bei Wikipedia nachlesen. Im englischen ist mehr über Orff zu finden als im deutschen.
An dieser Stelle läßt sich bereits sagen, daß es sich bei Rammsteins Weißem Album um ein rundes Ganzes handelt, das jedoch – wie fast jedes Kunstwerk – nicht vollkommen ist. Auch ich hätte einiges zu kritisieren, doch das hier zu tun, würde zu weit führen. Welche der elf Stücke ein Hörer zu seinen Lieblingsstücken zählt, bleibt ganz ihm selbst überlassen. Doch eines sollte jeder verstehen, nämlich:
Rammstein sind Künstler. Und Künstler sind nicht nur Dienstleister, die gefälligt machen sollen, wofür man sie bezahlt, sondern kreative Menschen, denen man die Freiheit lassen muß, dasjenige zu tun, wovon sie selbst glauben, daß sie es tun müßten. Daß Rammstein nicht mehr so »hart« und so »wütend« klingen wie in ihrer Anfangszeit, mag bedauerlich sein; doch auch Rockmusiker werden erwachsen und haben jenseits der 40 ein anderes Lebensgefühl und dementsprechend andere Prioritäten als zuvor. Dies ist der No. 7 deutlich anzuhören. Rammstein blicken zurück, spielen heiter mit alledem, was die Welt von ihnen erwartet, und haben ihr mehr gegeben als die meisten wahrhaben wollen, nämlich elf Stücke, die so unterschiedlich sind, daß sich unzählige Hörer nun darüber streiten. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, daß ihr Weißes Album alles andere als eine langweilige Scheibe ist, und gilt gleichermaßen für Musik und Text, Interpretation und die »poppigere« Produktion. Ich bin mir ziemlich sicher, daß in einigen Jahren kaum noch jemand sagen wird, Rammsteins No. 7 sei auch qualitativ die No. 7 ihrer Alben.
Ich betrachte dieses Album, all seinen tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Schwächen zum Trotz, als ein von vielen alten Fans speziell aus Deutschland jetzt noch unterschätztes, auf das alle, die künstlerisch dazu beigetragen haben, mächtig stolz sein können. Amen.