Hallo allerseits,
seit geraumer Zeit bin ich stiller Mitleser dieses tollen Forums, nun habe ich endlich den Schritt gewagt und mir einen Account eingerichtet.
Das erste Mal mit Rammstein in Berührung gekommen bin ich im Jahr 2004 zum Release von Amerika. Zunächst wusste ich nicht, wie ich diese Band einordnen soll. Ich stand am Beginn meiner Pubertät, hörte hauptsächlich die Hosen, Ärzte, britische Punk-Bands, entdeckte Grunge und Hip Hop. Von dem brachialen und doch so präzisen Sound, sowie den starken Bildern des Clips beeindruckt, besorgte ich mir ein Jahr später die Benzin-Single. Da ich in dieser Zeit Schlagzeugunterricht bekam und anfing, mich etwas ernsthafter für Musik zu interessieren, brachte ich die Scheibe in die Musikstunde mit.
Ich erwartete Verhaltung, zu meiner großen Überraschung hellte sich jedoch das Gesicht meines Schlagzeuglehrers auf, und er fing an, Christoph Schneiders zweckdienliches Spiel, sowie seinen Sinn für "Groove" in den höchsten Tönen zu loben. Zu Herzeleid habe er unzählige Stunden geübt, erzählte er mir. So kratzte ich mein letztes Taschengeld zusammen und besorgte mir im Second Hand-Plattengeschäft meines Vertrauens Herzeleid - eine musikalischer Epiphanie-Moment für mich.
Aus heutiger Sicht ist meine Lieblings Rammstein-Platte wohl Sehnsucht. Meines Erachtens vereint das Album alle Stärken der einzelnen Bandmitglieder, ist dabei deutlich einladender und sowohl musikalisch, als auch textlich durchdachter und vielfältiger als der Vorgänger. Gleichzeitig ist es noch nicht so geschliffen und in allen Belangen "durcharrangiert" wie Mutter, Rammsteins "Blockbuster-Album", wenn man so will.
Sehnsucht ist das vielleicht zeitgeistigste Album der Band, was meiner Ansicht nach kein Nachteil ist, sondern dessen Charme ausmacht. So ist der Einfluss von Electro-Formationen wie The Prodigy deutlich herauszuhören, Sequenzen, Samples und elektronische Parts sind viel präsenter im Klangbild vorhanden als auf dem sehr Gitarren-lastigen Herzeleid. Till Lindemann traut sich zunehmend, seine Parts auszusingen und geht dabei in Betonung und Dynamik deutlich nuancierter vor. Die Texte wirken nachdenklicher und weniger Parolen-artig, neben sexuellen Themen, dem obligatorischen Spiel mit Grenzen und Provokation wird lyrisch vermehrt auf Religion und Werte eingegangen (Engel, Bestrafe Mich, Du Hast, Alter Mann, Eifersucht). All dies geschieht noch auf metaphorische, mehrdeutige Art und Weise - etwas, das Lindemann und der Band als Lektorat seit LIFAD zu meinem großen Bedauern zunehmend abhanden kommt. Auf Sehnsucht ist viel schwarzer Humor zu finden ("Ein Zweibeiner auf allen Vieren, ich führe ihn spazieren...", "Ich werf den Stein zu meinem Spaß...", "Hab ich dein Weib, dann töte mich und iss mich ganz auf... Doch leck den Teller ab!"), was die teils sehr düsteren Themenkomplexe intelligent konterkarriert. Meiner Ansicht nach hat die Band dieses hohe lyrische Niveau nie wieder erreicht, hier sticht das experimentelle(re) Reise Reise positiv hervor, nur deutlich unambivalenter.
Einerseits setzt Sehnsucht die mit Herzeleid geschaffene Rammstein-Formel konsequent fort, verfeinert jedoch die Komponenten erheblich und lässt an den entscheidenden Stellen Veränderung zu (Gesang, Arrangements), was das Ergebnis geschmeidiger und zugänglicher macht.
Optisch und inszenatorisch gefällt mir die Band in der Sehnsucht-Ära am besten. Alle Mitglieder sind in ihrer Prime, die Shows haben bereits eine gewisse Größe, unterliegen aber noch nicht gänzlich dem systematischen Effektzwang und Klamauk der letzten Jahre. Das Geschehen auf der Bühne ist dynamischer und kraftvoll, die Band stets in Bewegung. Das grandiose Live aus Berlin markiert hier natürlich den Höhepunkt und setzt die Messlatte für alles kommende.
Mein persönliches Alben-Ranking:
1. Sehnsucht
2. Reise Reise
3. Mutter
4. Herzeleid
5. Liebe Ist Für Alle Da
6. Rosenrot
7. Zeit
8. Streichholz