In einer Gesamtbetrachtung aller Alben habe ich immer mehr den Eindruck, dass Rammstein künstlerisch schon Mitte der 2000er-Jahre seinen Höhepunkt überschritten hat, insbesondere was die Texte angeht - aber ich wäre sehr interessiert zu hören, wie das andere einschätzen, die auch mehr die musikalisch-instrumentelle Seite einschätzen können.
Wenn man noch einmal auf alle Alben zurückblickt, kann man, finde ich, verschiedene "Epochen" voneinander abgrenzen:
1. "Herzeleid", "Sehnsucht" - der Beginn, künstlerisch und textlich teilweise noch etwas ungehobelt, aber zu dieser Zeit einfach etwas, das man noch nicht gehört hatte, oder, wie die Band einmal sagte, ein "Wutausbruch", der aber vor Kreativität nur so sprühte.
2. Mutter - das wird wahrscheinlich musikalisch, textlich und vor allem als Gesamtkunstwerk - manche nennen es ja sogar ein Konzeptalbum - ein Meilenstein des Schaffens von Rammstein bleiben, zwar mit Schwächen ("Rein, Raus"), aber unbestritten von einer so dichten Atmosphäre, die vorher und später nie mehr in dieser Intensität erreicht wurde.
3. "Reise, Reise"/"Rosenrot" - hier wird es vielleicht etwas kontrovers, denn ich wage die These: wahrscheinlich der Zenit, jedenfalls aber die "reife Epoche" von Rammstein, in der die Texte so poetisch, durchdacht und von Wortspielen durchsetzt waren wie nie zuvor und später auch nicht mehr. Und gleichzeitig hatte die Band den Mut, neue Wege zu gehen, sich auszuprobieren ("Los" akustisch, erstmals englischer Text in "Amerika", märchenhafte bzw. literarische Elemente in "Dalai Lama", "Rosenrot", "Hilf mir"). Die unglaubliche poetische und - im Gegensatz zu dem davor von Rammstein Bekannten - musikalisch innovative Kraft dieser Zeit beeindruckt mich auch heute noch bei jedem Hören; hier findet man auch Jahre später immer wieder noch überraschende Ideen in den Liedern. Die Wertschätzung für die Texte war nie höher: Im Booklet von "Rosenrot" wird sogar ein musikalisch gar nicht verwertetes Gedicht von Lindemann präsentiert ("Tod nach Noten"). Lyrisch war die "Resteverwertung" Rosenrot wahrscheinlich sogar der Höhepunkt, und im Rückblick wird dieses Album immer mehr zum reifsten, selbstbewusstesten Ausdruck von Rammstein. Interessant natürlich, dass in dieser Zeit noch vielfach Ideen aus der "Mutter"-Zeit umgesetzt wurden (z. B. "Ohne Dich", "Mann gegen Mann"), sodass man vielleicht sogar "Mutter"/"Reise, Reise"/"Rosenrot" als "eine Epoche" ansehen kann.
4. Liebe ist für alle da - hier beginnt für Rammstein die "Postmoderne": kreativ und künstlerisch scheint man sich in der vorigen Epoche vollständig verausgabt zu haben, jetzt arbeitete man an der eigenen Legende (wie ja auch gleich der Einstiegssong suggeriert: "Rammlied"). Überhaupt: mit "Rammlied" und "Haifisch" erstmals zwei Songs auf einem Album, die sich mit der Band selbst auseinandersetzten: meines Erachtens gleichzeitig Imagepflege und auch Ausdruck von Ideenlosigkeit, was die noch zu bearbeitenden Themen angeht. Parallel vereinzelt noch poetische Höhepunkte ("Waidmanns Heil", "Roter Sand" als Fontane-Verwertung, "Donaukinder", dessen Ursprünge ich auch stark in der vorherigen Epoche vermute). Gleichzeitig setzt mit der "Postmoderne" aber auch eindeutig der Niedergang ein: meiner Meinung nach eindeutig auch ablesbar an der Entwicklung von Till Lindemann - und hier wird es interessant, was die Entwicklung der Band und der Person Till Lindemann angeht. Die poetische Qualität lässt im Großen und Ganzen schon erkennbar nach, gleichzeitig verändert Lindemann sich äußerlich: erstmals tritt er mit Piercings und Tattoos auf, die Narben werden mehr - vergleicht das mal mit Aufnahmen aus der vorherigen Epoche, z. B. "Anakonda im Netz". Irgendetwas - ob nun ein traumatisches Erlebnis oder einfach die Midlife-Crisis - muss hier deutliche Spuren hinterlassen haben, und zwar sowohl mit Blick auf die öffentliche Figur "Till Lindemann" als auch mit Blick auf sein künstlerisches Potential. Mit "Pussy", "Bückstabü", "Liebe ist für alle da", aber auch "Ich tu dir weh" wird es poetisch immer flacher. Dieser Trend wird sich in den langen Jahren ohne Album danach fortsetzen (Soloprojekt von Till Lindemann, Dr. Dick usw.). Die "Postmoderne" bzw. "Selbstreferenz" geht ebenfalls in dieser Zeit weiter: Best-of-Album, Video zu "Mein Herz brennt". Dazu tritt Rammstein erstmals als "deutsche Band" auf, d.h. explizit an ein internationales Publikum gerichtet: das fing mit der Deutschlandfahne im Pussy-Video an und ging mit der Deutschland-Fahne als Vorhang auf den Konzerten weiter.
5. Unbetiteltes Album, Zeit - das Spätwerk. Die o. g. Prozesse sind weiter vorangeschritten: Rammstein wendet sich zunehmend an das große (Stadiontour) und internationale (Deutschland-Song) Publikum, um sich selbst als Marke zu feiern; beim unbetitelten Album hat man es schon gar nicht mehr nötig, sich einen Albumtitel zu überlegen (wobei die zunehmend unkreativen Texte auch wenig Ideen dafür hergeben). Während die Musik durch die neue Produktion auf beiden Alben noch einmal reizvolle neue Aspekte erhält, geht es poetisch eindeutig bergab. Im direkten Vorgleich zum Höhepunkt des Schaffens hat man sogar den Eindruck, dass hier nicht nur Ideenlosigkeit in Bezug auf die Texte das Problem ist, sondern auch eine gewisse Unkonzentriertheit: oftmals werden nur noch Versatzstücke statt zusammenhängender poetischer Texte abgeliefert: schaut euch mal die Lyrics von "Deutschland", "Zeig dich", "Sex", "Zeit", "OK" an. Hier fehlt es an allen Ecken und Enden, von einigen lobenswerten Ausnahmen ("Schwarz", ist aber auch ein älteres Gedicht) abgesehen. Es wird auch immer flacher, was die Bedeutungsebene angeht: immer mehr ein Thema flach und ohne "doppelten Boden" abgehandelt. Daher enttäuscht auch "Zeit", das auf den ersten Blick so poetisch daherkommt, auf den zweiten Blick aber nur eine Ansammlung an Plattitüden ist, zusammengehalten durch einen dümmlichen Refrain. Worauf genau dieser Niedergang zurückzuführen ist, kann ich mir nicht erklären, aber es wirkt so, als ob die Veränderungen von Till Lindemann (leider zum Negativen) hier ihre Spuren hinterlassen haben.
Ich glaube, dass es Rammstein ab der "Reise, Reise"/"Rosenrot"-Zeit schwer gefallen ist, sich noch weiter selbst zu verwirklichen. Was danach kam, überzeugt nicht mehr wirklich. Irgendwann zur Zeit von "Rosenrot" hieß es einmal in einem Interview mit der Band, man trage sich mit dem Gedanken, noch mehr literarische bzw. Märchenstoffe musikalisch umzusetzen (wie "Rosenrot" oder "Dalai Lama"). Es ist schade, dass man diesen Weg nicht gegangen ist - "Roter Sand", aber auch die Hänsel-und-Gretel-Arbeit von Lindemann, die dann leider maßgeblich in sein Soloprojekt geflossen ist, zeigen, was möglich gewesen wäre. Aber irgendetwas muss nach "Rosenrot" mit Till Lindemann passiert sein, das ihn und das Werk von Rammstein zunehmend auf die abschüssige Bahn gebracht hat. Was das wohl gewesen sein könnte?